Christoph Dartmann, Marian Füssel, Stefanie Rüther (Hgg.)

Raum und Konflikt

Zur symbolischen Konstituierung gesellschaftlicher Ordnung in Mittelalter und Früher Neuzeit

Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme –
Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496
Band 5

2004, 256 Seiten, 10 Beiträge, 7 Abbildungen, Harteinband
2004, 256 pages, 10 essays, 7 figures, (with abstracts in English), hardcover

ISBN 978-3-930454-47-1
Preis/price EUR 36,–

17 × 24cm (B×H), 650g

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Zum Inhalt:

Das Problem der Konstituierung sozialer Ordnung bildet eine der Grundfragen der historischen Kulturwissenschaften. Dabei lautet die Frage weniger, ob soziale Ordnung möglich ist, als vielmehr wie sie möglich ist. In diesem Sinne fragen auch die Autoren des vorliegenden Bandes, wie in unterschiedlichen historischen Situationen soziale Ordnungsmuster etabliert, umkämpft und behauptet wurden. Als gemeinsamer Ausgangspunkt gilt zudem die Annahme, daß Ordnung nicht eine quasi ontologische, immer schon gegebene Realität repräsentiert, sondern zu jeder Zeit erst durch die jeweiligen Akteure hergestellt werden muß. Dabei scheint es ein besonderes Charakteristikum der Vormoderne zu sein, daß Konzeptionen sozialer und gesellschaftlicher Ordnung in räumliche Arrangements umgesetzt wurden. Soziale Gruppen und Stände fanden einen festen Ort in räumlichen Ordnungsmodellen, in denen gesellschaftliche Hierarchien über verschiedene räumliche Leitdifferenzen wie oben/unten, links/rechts oder innen/außen symbolisiert werden konnten. Die Diskrepanz zwischen normativen Ordnungsentwürfen, also vor allem der Idee einer umfassenden räumlichen Verortbarkeit aller sozialen Gruppen und Individuen, und den konkreten Verhältnissen produzierte jedoch in der Praxis immer wieder soziale Konflikte. Durch Konflikte konnte die gesellschaftliche Ordnung gestört, ausgehandelt, wiederhergestellt und letztlich immer wieder neu definiert werden. In diesem Sinne folgen die Beiträge der methodischen Prämisse, daß gerade Ordnungsstörungen in besonderem Maße dazu geeignet sind, die impliziten Regeln, Geltungsbedingungen und Konstruktionsprinzipien einer Ordnung zu erschließen. Aus verschiedenen disziplinären Perspektiven wird aufgezeigt, wie gesellschaftliche Ordnungen als räumliche Metaphern vorgestellt, in Konflikten verarbeitet, ständig modifiziert und schließlich in die imaginären wie in die konkreten sozialen Räume eingeschrieben wurden.


Die Autoren und ihre Beiträge:

Marian Füssel / Stefanie Rüther:
Einleitung

Christiane Witthöft:
Symbolische Raumordnung in der Literatur des Mittelalters – Zum gedranc als Raumkonstituente im »Frauendienst« Ulrichs von Liechtenstein

Susanne Höfer:
Zur räumlichen Makrostruktur der adeligen Lebenswelt im »Welschen Gast« des Thomasin von Zerklaere

Heike Bierschwale / Oliver Plessow:
Schachbrett, Körper, Räderwerk – Verräumlichte Gesellschaftsmetaphorik im Spätmittelalter

Ingmar Krause:
»... hinc principum discordia, nescio quando nisi illis obeuntibus conponenda?« – Bemerkungen zur Beilegung von Konflikten im westfränkisch-französischen Reich (10.–12. Jahrhundert)

Stefanie Rüther:
Von der Macht, vergeben zu können – Symbolische Formen der Konfliktbeilegung im späten Mittelalter am Beispiel Braunschweigs und der Hanse

Christoph Dartmann:
Furor – Konfliktpraktiken und Ordnungsvorstellungen im kommunalen Siena

Antje Flüchter:
Pastor Lauffs und die Frauen – Sexualität und Konflikt in einer frühneuzeitlichen Gemeinde

Marian Füssel:
Rang und Raum – Gesellschaftliche Kartographie und die soziale Logik des Raumes an der vormodernen Universität

Thomas Weller:
Ius subselliorum templorum – Kirchenstuhlstreitigkeiten in der frühneuzeitlichen Stadt zwischen symbolischer Praxis und Recht

Rüdiger Schmidt:
Die Eroberung des revolutionären Raums: Paris im Revolutionszeitalter


Näheres zu den Beiträgen:

Christiane Witthöft:
Symbolische Raumordnung in der Literatur des Mittelalters – Zum gedranc als Raumkonstituente im »Frauendienst« Ulrichs von Liechtenstein

Ausgehend vom ›Frauendienst‹ Ulrichs von Liechtenstein stellt der Beitrag Fragen über die den fiktionalen Texten inhärente Raumsymbolik. Der ›Frauendienst‹ zieht die räumlichen Begebenheiten von Nähe und Distanz als Konstruktionselement einer fiktiven Gesellschaft stark heran.
Neben den architektonischen Räumen, die Nähe erfordern und somit symbolisch aufgeladen sind (Kirchenportale, Fensternischen), fordern auch Ritualhandlungen die sichtbare Anwesenheit der Akteure auf engstem Raum sowie ein Publikum, welches den aktiven Rahmen bzw. die Bühne bildet.
Als besonderes Element der Raumgestaltung wird das ›gedranc‹ hervorgehoben. Der Protagonist Ulrich wird zumeist von einer ›Raumdichte‹ begleitet, die das Zentrum der Handlung anzeigt und als Textsignal die Aufmerksamkeit der Rezipienten lenkt.

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Susanne Höfer:
Zur räumlichen Makrostruktur der adeligen Lebenswelt im »Welschen Gast« des Thomasin von Zerklaere

Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen die räumlichen Strukturen des ›Welschen Gastes‹, den Thomasin von Zerklaere 1215/16 als Lebens- und Wissenslehre für den höfischen Adel konzipierte. Anhand zweier Bereichen wird exemplarisch beleuchtet, wie diese erste umfassende deutschsprachige Didaktik die Wahrnehmung der Wirklichkeit und damit auch die Handlungsmuster der Rezipienten über räumliche Strukturvorgaben im Zusammenhang von Text und Illustration zu beeinflussen sucht.

Als erstes wird aufgezeigt, wie Thomasin als Voraussetzung gelingender Kommunikation die Distanz zwischen sich und seinen Adressaten in der Kombination geographischer, metaphorischer und sozialer Raumkonstruktionen zu überbrücken versucht. In einem zweiten Schritt wird die Darstellung gesamtgesellschaftlicher Ordnung(en) untersucht, die ebenfalls im Verbund geographischer, metaphorischer und sozialer Räume als makrostrukturelle Wahrnehmungsvorgaben der Vermittlung zentraler Inhalte seiner Lehre dienen.

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Heike Bierschwale / Oliver Plessow:
Schachbrett, Körper, Räderwerk – Verräumlichte Gesellschaftsmetaphorik im Spätmittelalter

Die tugenddidaktische Literatur des Mittelalters ist bestrebt, die Menschen ihrer Zeit für eine tugendhafte Ausgestaltung ihres Lebens in dieser Welt zu gewinnen. Sie bildet damit eine Schnittstelle zwischen der Reflexion über Werte und dem tatsächlichen Handeln. Einige Texte entwickeln dabei symbolische Modelle, anhand derer der Mensch sich selbst und seine Welt erklärt. Nutzen solche Sozialmetaphern die Möglichkeiten der Semantisierung räumlicher Komponenten? Entspricht die räumliche Gestaltung von Metaphern der sozialen Ordnung – und dient sie der Wahrnehmung von Hierarchien? Wie verhält es sich mit dem eigenen Ausgestaltungspotential der Bilder? Diesen Fragen wird anhand dreier populärer Beispiele nachgegangen, bei denen die Bildlichkeit die Aufteilung der Tugenden auf die einzelnen Stände bzw. gesellschaftlichen Gruppen leistet: Es sind dies die Metapher des Schachbretts als Modell der Gesellschaft im Gefolge des ›Liber de ludo scaccorum‹ des Jacobus de Cessolis, die traditionsreiche Analogie vom Staat als Organismus, die Johannes Rothe in seinem ersten Ratsgedicht auf die Verhältnisse der mittelalterlichen Stadt übertragen hat, sowie die Metapher vom ›Räderwerk‹, mit deren Hilfe Hermen Bote ein ständisch differenziertes Strukturmodell des ganzen Reichs entwarf.

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Ingmar Krause:
»... hinc principum discordia, nescio quando nisi illis obeuntibus conponenda?« – Bemerkungen zur Beilegung von Konflikten im westfränkisch-französischen Reich (10.–12. Jahrhundert)

Im Spannungsfeld des Ablösungsprozesses der karolingischen Herrscher durch die Kapetinger und der Konstituierung einer gesellschaftlichen Ordnung, die von der historischen Forschung mit den Begriffen anarchie féodale, mutation féodale oder ordre seigneurial bedacht worden ist, untersucht der Beitrag die Beilegungen der sich innerhalb der westfränkisch-französischen Herrschaftsschicht artikulierenden Konflikte. Er behandelt dabei im einzelnen die Fragen nach der Dauerhaftigkeit, den inhaltlichen Bestimmungen und den an den Konflikten und Friedensschlüssen beteiligten Protagonisten. Er zeigt, daß die Beilegung der auf den ersten Blick recht willkürlich anmutenden Konflikte einer rationalen Logik unterlag, die deren Beendigung in vielen Fällen dauerhafter als bisher zumeist angenommen regelte, weil die Protagonisten der Konflikte nicht einfach stets summarisch als geschlossene Parteiungen begriffen wurden und sich die Inhalte der Frieden zugleich nicht stets auf eine allgemeine Regelung des gegenseitigen Verhältnisses bezogen. Vielmehr stellten die gefundenen Lösungen häufig nur die Regelung eines eher begrenzten Problemfeldes dar.

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Stefanie Rüther:
Von der Macht, vergeben zu können – Symbolische Formen der Konfliktbeilegung im späten Mittelalter am Beispiel Braunschweigs und der Hanse

Den gesellschaftlichen Akteuren des Spätmittelalters standen verschiedene Optionen zur Verfügung, um Konflikte beizulegen und den gesellschaftlichen Konsens wiederherzustellen. Dabei konnte rituelles Handeln, wie eine öffentliche Unterwerfung, ebenso ein geeignetes Mittel sein, um Genugtuung zu leisten und die Wiederherstellung der Ordnung anzuzeigen, wie ein schriftlich festgehaltener Vertrag, in dem entsprechende Ausgleichsleistungen festgelegt wurden. Im Mittelpunkt des Beitrags steht daher die Frage, unter welchen sozialen Bedingungen die jeweiligen spezifischen Formen der Konfliktbeilegung zur Anwendung gebracht wurden. Am Beispiel der Unterwerfung Braunschweigs vor den Vertretern der Hanse kann gezeigt werden, daß die Regeln der Konfliktführung, wie die Institutionen der Vermittlung, der Schiedsgerichtsbarkeit und die Möglichkeiten einer gütlichen Konfliktbeilegung durch Unterwerfung und Sühnevertrag nicht immer und unverändert ihre Wirkung entfalten konnten. Die hansische Gemeinschaft besaß am Ende des 14. Jahrhunderts im norddeutschen Raum ein solches Gewicht, daß ihr die Aufgabe zugetragen wurde, innerstädtische Konflikte zu vermitteln und zu entscheiden. Damit trat sie zumindest vorübergehend an die Stelle der Landes- und Stadtherren, die aufgrund der mangelnden Autorität ihrer Rolle als Richter und Friedensstifter zu dieser Zeit nicht mehr gerecht werden konnten. Eine genaue Analyse der verschiedenen Regelungen in den Sühneverträgen und des Aktes der Unterwerfung der Braunschweiger macht deutlich, wie differenziert man auf die spezifischen Störungen und Verletzungen der geltenden Ordnung zu reagieren vermochte. Gleichwohl unterlagen die Praktiken der gütlichen Konfliktbeilegung bestimmten Erwartungshaltungen, die es ermöglichten, das Geschehene in der Erinnerung umzuformen und verschieden auszudeuten.

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Christoph Dartmann:
Furor – Konfliktpraktiken und Ordnungsvorstellungen im kommunalen Siena

Konfliktpraktiken und kommunale Ordnungsvorstellungen divergierten im spätmittelalterlichen Siena deutlich. Auf der Basis chronikalischer Quellen des 13. und 14. Jahrhunderts läßt sich konstatieren, daß die Interaktion auf den Straßen Sienas rasch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen eskalieren konnte. Während die einschlägige Forschung vor allem nach politischen und sozialen Ursachen der Konflikte gefragt hat, setzt der vorliegende Beitrag bei den Abläufen innerer Unruhen an; die Konfliktpraktiken waren weitgehend unabhängig davon, ob es sich um einen Angriff auf die Kommunalregierung handelte oder um andere Auseinandersetzungen. In beiden Fällen sah sich die Leitung der Stadtgemeinde herausgefordert, den Frieden wieder herzustellen, ohne mit diesen Versuchen zwangsläufig auf die Akzeptanz der Bürger der Stadt zu stoßen. Vielmehr sahen sich die Vertreter der Regierung in vielen Fällen genötigt, Widerständen nachzugeben oder die eigenen Ordnungsvorstellungen mit Gewalt durchzusetzen. In Berichten aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wird deutlich, daß das demonstrative Zerstören von Schriftstücken auf kommunale Macht zielt; öffentliche Inszenierungen von Schriftstücken konnte im Dienste einer Legitimierung kommunaler Regierung eingesetzt werden. Die Nutzung und die Kontrolle des Geschriebenen wurde also offenbar eng mit dem Anspruch legitimer Machtausübung durch die Kommune verbunden.
In einer gewissen Spannung zu den Konfliktpraktiken stehen die Ordnungsvorstellungen, wie sie die Fresken Ambrogio Lorenzettis in der Sala della Pace des Palazzo Pubblico visualisieren. Einerseits handelt es sich, anders als Chiara Frugoni vermutet, nicht um reine Ideologie, weil die Kommunalregierung bemüht war, durch strenges Richten Frieden und Gerechtigkeit herzustellen. Andererseits läßt sich die Praxis nicht auf das einfache binäre Schema reduzieren, das die Fresken vor Augen führen, in denen Dissens, Gewalt und Konflikt allein im Kontext der Tyrannei erscheinen.

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Antje Flüchter:
Pastor Lauffs und die Frauen – Sexualität und Konflikt in einer frühneuzeitlichen Gemeinde

Konflikte gehören zum Alltag vormoderner Gemeinden, Konflikte entstehen, wenn Ordnung gestört worden ist. Ende des 17. Jahrhunderts versuchte die jülich-bergische Gemeinde Bilk die Absetzung ihres Pfarrers Wilhelm Lauffs zu erreichen, nachdem dieser sexuelle Beziehungen zu seinen Mägden, zu Ehefrauen seiner Gemeinde und einer Prostituierten gehabt hatte. Der vorliegende Aufsatz untersucht, welche Rolle Sexualität im Allgemeinen und die Übertretung des Zölibatgebotes im Besonderen in diesem Konfliktfall spielte und welche Ordnung gestört worden war. Er geht den verschiedenen Argumentationsmustern nach, die die Gemeinde gegenüber den Visitatoren bezüglich der drei Gruppen von Frauen verfolgte. Dabei ergab sich, daß die Gemeinden zum einen sehr strategisch argumentierte; hier hatte keine obrigkeitlich gesteuerte Sozialdisziplinierung stattgefunden, sondern die hinzugezogene weltliche Gerichtsbarkeit war im Sinne der Gemeinde instrumentalisiert worden. Zum anderen scheint die sexuelle Aktivität des Pastoren in den Augen der Gemeinde wenig problematisch gewesen zu sein, der Zölibat als zentrale Norm der tridentinischen Reform war also nicht internalisiert worden. Der Pastor hatte durch sein Verhalten weniger die ›Ordnung der Sexualität‹ verletzt, sondern vor allem durch seine Versuche, Frauen der Gemeinde zum Ehebruch zu verführen, die ökonomische und soziale Ordnung der Hausgemeinschaft wie der Gesamtgemeinde gestört. Diese Störung hatte zum Konflikt und schließlich zur Entsetzung Pastor Lauffs geführt. Beurteilung wie Argumentationsstruktur der Gemeinde sind in den drei Beziehungsgruppen (Mägde, Ehefrauen, Prostituierte) so verschieden, daß es überhaupt fraglich ist, ob von einer einheitlichen ›Ordnung der Sexualität‹ gesprochen werden kann.

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Marian Füssel:
Rang und Raum – Gesellschaftliche Kartographie und die soziale Logik des Raumes an der vormodernen Universität

Ziel des Beitrags ist die Rekonstruktion der vormodernen Universität als einer symbolischen Ordnung, in der sich die Geltungsansprüche gegenüber anderen Individuen und Gruppen in einer Sprache symbolischer Praktiken zum Ausdruck brachten. Ausgehend von der Frage nach der Bedeutung der Dimension Raum für die Konstitution und Wahrnehmung sozialer Rangordnungen und Hierarchien, werden die unterschiedlichen Anlässe beleuchtet, die im Bereich der Universitäten als Bühne zur symbolischen Manifestation gesellschaftlicher Ordnung dienten.

Indem die Ordnung des Raumes hier sowohl in ihrer kognitiven wie sozial distinktiven Dimension in den Blick genommen wird, eröffnen sich neue Einsichten in die spezifische Logik unterschiedlicher Medien sozialer Distinktion. In den Sitzordnungen und Prozessionen des akademischen Zeremoniells wurde die soziale Ordnung jedoch nicht bloß abgebildet, sondern stets aufs neue in actu konstituiert. Ein Vorgang, der Anlass zu zahlreichen Konflikten um den richtigen Platz gab, so dass Raum und Konflikt stets eine enge Verknüpfung miteinander eingingen.

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Thomas Weller:
Ius subselliorum templorum – Kirchenstuhlstreitigkeiten in der frühneuzeitlichen Stadt zwischen symbolischer Praxis und Recht

Weitaus stärker als moderne Gesellschaften war die frühneuzeitliche Ständegesellschaft auf die ständige Visualisierung ihrer selbst angewiesen. So galt auch der Platz in der Kirche stets als Indikator für den sozialen Rang und Status des Platzinhabers. Die Sitzordnung stellte aber zumindest in den frühneuzeitlichen Städten bei näherem Hinsehen keineswegs ein getreues ›Abbild‹ der sozialen Rangverhältnisse dar, letztere wurden vielmehr in der sozialen Praxis stets aufs Neue hergestellt bzw. symbolisch erzeugt. Der Platz des Einzelnen innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung stand also nie unverrückbar fest, sondern war stets Ergebnis und Gegenstand von Aushandlungsprozessen und symbolischen Kämpfen. Diese verliefen häufig gewaltförmig. Nicht immer aber zogen sich die Streitenden an den Haaren, drängten sich gegenseitig aus den Bänken oder beschimpften sich unflätig. Charakteristisch für Kirchenstuhlstreitigkeiten wie auch für andere Formen der Auseinandersetzung um sozialen Rang in der Frühen Neuzeit war vielmehr zugleich eine zunehmende Tendenz, die Konflikte mit den Mitteln des Rechts auszutragen. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts entwickelte sich ein eigenständiger rechtsgelehrter Diskurs, das Ius subselliorum templorum, das sich ausschließlich mit den Besitz- und Nutzungsrechten an Kirchenstühlen beschäftigte. Dies blieb für die Praxis der Auseinandersetzungen nicht ohne Folgen. Gleichwohl erwies sich das Recht bis ins 19. Jahrhundert als weitgehend untaugliches Instrument, um die Konflikte einzudämmen. Weder die zahllosen von den Obrigkeiten erlassenen Kirchenstuhlordnungen noch die Flut an rechtgelehrter Literatur, von der Dissertation bis zum leicht verständlichen Kompendium für geplagte Dorfpfarrer, führten zu einem Rückgang der Auseinandersetzungen. Der von allen Instanzen bestätigte, rechtlich abgesicherte Anspruch auf einen Kirchenstuhl alleine reichte meist nicht aus, es galt vielmehr den beanspruchten Platz auch tatsächlich bei jedem Gottesdienstbesuch stets aufs Neue physisch einzunehmen. In einer Vielzahl von Fällen lässt sich ein Nebeneinander von justizförmigen und nichtjustizförmigen Mitteln der Konfliktführung beobachten. Indem die Bemühungen der zeitgenössischen Juristen die Probleme offenbar zunächst eher verschärften, zu deren Lösung sie beitragen wollten, trugen sie aber auf lange Sicht wohl ungewollt dazu bei, dass sich die kollektive Vorstellung einer streng hierarchisch gegliederten gesellschaftlichen Ordnung, in der jedem ein fester Platz zukam, allmählich verflüssigte. Erst dies nahm auch den Auseinandersetzungen um den Platz in der Kirche ihre Schärfe und ihre existentielle Bedeutung für die Zeitgenossen.

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Rüdiger Schmidt:
Die Eroberung des revolutionären Raums: Paris im Revolutionszeitalter

Der hier vorgestellte Beitrag thematisiert die Transformation raumsymbolischer Strukturen, Elemente und Vorstellungen im revolutionären Paris zunächst am Beispiel der Bastille und des Louvre und der symbolischen Auf- bzw. Abwertung eines monarchischen und revolutionären Zentrums. Im Rahmen der revolutionären Politik übernahmen die Festumzüge im städtischen Raum Aufgaben der kulturellen Reproduktion und Integration und fungierten so als eine Art Katalysator für jenen Wandel sozialer und individueller Identitätserfahrungen, der in der Sphäre der alltäglichen Lebenswelt auch durch die »trikolore Kleiderordnung« zum Ausdruck gebracht wurde. Solche spontanen Meinungs- und Willensbildungsprozesse im öffentlichen Raum korrespondierten mit den Lenkungsfunktionen einer Verwaltung, die im Zuge der revolutionären Umbenennung von Straßen die Imperative revolutionärer Didaktik bestandssichernder Institutionalisierung unterwarf. Die Leitidee, auf diese Weise republikanische Werte und Prinzipien auch visuell zu vermitteln, wurde darüber hinaus – dieser Aspekt soll hier abschließend behandelt werden – im Konzept der Revolutionsarchitektur zum Ausdruck gebracht, die die Strukturen der neuen Ordnung ästhetisch integrierte und erfahrbar machte.

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Rezensionen:

»Eine breitere Rezeption wäre dem Band in der Tat zu wünschen.«

Ralf-Peter Fuchs, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 128, Heft 2 (2006), S. 330–332.

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Thomas Wetzstein, in: Historische Zeitschrift 283, Heft 1 (2006), S. 136f.

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Susanne Rau, in: Zeitschrift für historische Forschung 33, Heft 4 (2006).

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Westfälische Forschungen. Zeitschrift des westfälischen Instituts für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe 2006.

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